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Bye Bye Panzer – wer bin ich ohne dich?

Ich berichte in meiner Kolumne „Bye Bye Panzer“ über sehr persönliche Erlebnisse aus meinem Leben und meinem Weg aus der Essstörung. Es könnte sein, dass dich dieses Thema in irgendeiner Form triggert oder dir nicht gut tut. Bitte achte auf dich.

Lieber Poldi,

es ist wieder so weit. Setz dich hin und schnapp dir einen Drachenkaffee. Ich habe ein bisschen mehr Milch in den Kaffee getan, ganz genau so, wie du ihn am liebsten magst.

Wir beide haben eine Menge zu bequatschen. Ein Monat geht wirklich sehr schnell rum. Findest du nicht?

Heute möchte ich dir davon erzählen, wie ich mir mein Leben ohne dich vorstelle. Nicht traurig sein, kleiner Vielfraß. So schnell wird das nicht passieren. Ich glaube, dass wir noch eine recht lange Zeit vor uns haben, und um so wichtiger ist es, dass wir es uns richtig schön machen.

Dieser eine Klosterbesuch

Poldi, das erste Mal habe ich über dich bei meinem letzten Klosterbesuch gesprochen. Ich fuhr mit wenig Gepäck, aber vielen Fragen zu einem meiner Seelenorte und verbrachte dort ein verlängertes Wochenende. Immer mal wieder bin ich mir bewusst geworden, dass es da etwas gibt, was ich noch nicht so richtig verstehe, was ich nicht benennen kann. Eigentlich dachte ich ja, dass ich einen kleinen giftgrünen Troll in mir drinnen habe, aber das stimmt nicht.

Ich habe einen Poldi um mich herum.

Einen Panzer, der mich schon sehr viele Jahre begleitet. Der mich als Kind und auch als Erwachsene beschützt und umsorgt hat, der mir (vermeintliche) Stärke gab und dafür sorgte, dass ich mich eher versteckte, als zu mir zu stehen. Das sah im Außen meistens nie so aus, aber genau so war es.
Weißt du eigentlich, dass es Ereignisse gibt, die ich mir heute noch ganz bewusst in Erinnerung rufen kann? Situationen, an denen ich gemerkt habe, dass ich anders bin als andere?
Ich erzähle dir gerne davon, auch wenn das nicht einfach ist.

So lange ich zurückdenken kann, war ich dick. Ob als Kind, Jugendliche oder Erwachsene.

Immer wieder bekamen meine Eltern oder ich diese Sätze zu hören: „Das verwächst sich wieder“ – „Sie muss einfach weniger essen“. 

Einfach – ha, nein, das war es wirklich nie.

Ich erinnere mich an meine erste Diät! Ich war gerade 12 Jahre alt.
Ich habe nur Knäckebrot oder Äpfel gegessen. Ganze drei Stück am Tag. 

Ich lernte Kalorien zu zählen und Lebensmittel in gut und schlecht zu kategorisieren.
Ich aß aus Trauer, Wut, vor Aufregung, wollte Gefühle nicht an mich heranlassen und mich taub stellen. Und wenn ich meine selbst auferlegten Regeln nicht befolgt habe, ging es mir schlecht, und ich machte mich fertig. Hasste mich und meine Unfähigkeit, mich zu disziplinieren.

Essen war immer mein Weg, mir Trost zu holen, mich zu beruhigen und mich auch zu belohnen. Essen musste für alles herhalten.

Die ersten Diäten funktionierten super, und es folgte der Applaus. Ich wurde regelrecht süchtig nach Zuspruch und Anerkennung im Außen. Dieses Diätverhalten hielt lange an. Ich nahm ab und wieder zu. Hoch und runter ging es – wie eine Achterbahnfahrt. Runter zu einer Konfektionsgröße 46 oder hoch bis zu einer 64. Eine Adipositas-Karriere, wie sie im Buche steht.

In meinem Kopf brannte sich die Vorstellung ein, dass ich wie Alf vom Planeten Melmac komme oder einfach adoptiert sein muss. Denn meine Mama war schon immer schlank und schön. Wie konnte ich denn dann so anders sein?

Jetzt kommt eines meiner Erlebnisse, von denen ich am Anfang mit dir gesprochen habe.

Meine Kommunion:
Kleidung zu kaufen war schon als Kind ein Albtraum für mich. Mit neun war ich bereits 170 cm groß und passte in keines der Kommunionskleidchen, die Mädchen in meinem Alter tragen sollten. Zierlich, kurz und schmal waren alle diese Kleider. Für mich gab es dieses Kleid, von dem ich lange geträumt hatte, nicht.

Ich weiß noch, wie sehr ich mich auf meine Kommunion freute! Ich wollte wie eine Prinzessin aussehen, mit Korkenzieherlocken (lach), weißen Lackschühchen und einem kleinen Täschchen.
Meine Omas, alle Tanten, Onkel und Verwandten sollten sehen, wie schön ich aussehen kann. Schließlich war es eine große Familienfeier, die meine Eltern planten.

Ich war zu dem Zeitpunkt alles andere als schwer adipös. Ich war einfach pummelig und groß. Klein Tanjas Vorstellung, wie eine Prinzessin auszusehen, war dahin – und ich bitter enttäuscht.

Am Ende fanden wir eine Lösung aus Rock und Oberteil, was auch aussah wie ein Kleid – aber es war nicht dasselbe.

Stell dir vor, Poldi. Ich habe damals schon mit neun bei mir die Schuld gesucht. Ich dachte, ich bin ein Alien von einem anderen Planeten. Auch wenn meine Eltern mich trösteten und ich am Ende ein wundervolles Fest hatte: In meinem Kopf brannte sich die Vorstellung ein, dass ich wie Alf vom Planeten Melmac komme oder einfach adoptiert sein muss. Denn meine Mama war schon immer schlank und schön. Wie konnte ich denn dann so anders sein?

Mein erster kurzer Rock:

Ich erinnere mich noch heute daran, wie es war, als ich mir dann meinen ersten kurzen Rock kaufen wollte … Meine Beine waren immer mein „schwächster“ Punkt ( so dachte ich), und ich traute mich erst gar nicht aus der Umkleidekabine zum großen Spiegel. Ich tat es aber doch, sah mich an, nur ein paar Sekunden – und ging zurück in die Umkleidekabine. „Das geht nicht, das sieht furchtbar aus!“
Ich war damals 15 und hatte Kleidergröße 46. #rollmitdenaugen 

Wieder war das Gefühl da, dass ich einfach nicht richtig bin und ein Mutant. Genau so waren meine Gedanken.

Ich weiß, mein Lieber, das sind harte Worte, und nein, du musst nicht traurig sein. Ohne meinen eigenen Weg wäre ich jetzt nicht hier, und du auch nicht. Es würde kein Kurvenrausch geben, und ich wäre wahrscheinlich immer noch der Meinung, dass ich nur schlank glücklich sein kann.

In den letzten Monaten habe ich wirklich erkannt, dass all das einen Sinn hat. Dass ich hier und jetzt genau richtig bin. Dass ich Gefühle fühlen kann, dass Angst da sein kann und durch mich hindurch darf. Ich habe dich kennen- und lieben gelernt – ohne Wenn und Aber.

Ich bin nicht mehr nur auf meinen Körper fixiert und tatsächlich glücklicher als noch vor ein paar Jahren.

poldi panzer Tanja Marfo

Loslassen

So viel habe ich losgelassen, habe meiner Angst direkt ins Auge geschaut und ihr gesagt, dass sie hier sein darf. Ich lebe inzwischen alleine mit meinem Sohn und auch wenn ich solo bin, möchte ich erstmal alleine wissen, wer ich bin, ich will bis zu den dunkelsten Ecken gehen und dort wieder das Licht anknipsen. 

Ich weiß, dass ich irgendwann Platz machen kann für einen neuen Lebenspartner. Irgendwann wird es so weit sein, und diese Zeit wird wundervoll werden.
Der Gedanke, dass dieser Mensch irgendwo dort draußen rumläuft, macht mich happy.„Ich hätte gerne irgendwas, das bleibt“ – um es mit den Worten von Elif zu sagen.

Ich bin bereit

Loslassen werde ich auch dich, lieber Poldi. Und weißt du was, ich bin bereit! Ich fühle mich gerade so unbeschwert und manchmal ganz leicht. Ich weiß, dass wir uns beide noch brauchen, um zu genesen. Und dabei ist es mir wichtig, dass wir anderen Menschen von unserem Weg erzählen. Genesung bedeutet, frei von Essanfällen zu sein, und dies wiederum heißt, dass ich auch weniger Nahrung zu mir nehme.

Ich finde, wir sollten ihnen nicht zu ihren verlorenen Kilos oder einem besseren Aussehen gratulieren. Zu mehr Gesundheit und einem Leben ohne Essensdruck könnte man gratulieren. Nicht wahr?

Wie stellst du dir vor, sollten wir mit Menschen umgehen, die genesen?

Ich finde, wir sollten ihnen nicht zu ihren verlorenen Kilos oder einem besseren Aussehen gratulieren. Zu mehr Gesundheit und einem Leben ohne Essensdruck könnte man gratulieren. Nicht wahr?

Ich will unabhängig sein von den Beurteilungen oder Komplimenten anderer. Ich will mir als erstes selbst genug sein und mich noch mehr lieben. Das ist das große Ziel. Denn wer ich wirklich bin, das kann manch einer ohne meinen Panzer nicht sehen. Ohne dich ändere ich mein Wesen nicht. Ich bin immer noch ich – nur vielleicht kann der eine oder andere mein Ich jetzt besser sehen.

Die Abnahme durch weniger Nahrungsaufnahme ist in meinen Augen ein reiner Nebeneffekt und etwas sehr Persönliches. Denn Essen ist immer nur das Symptom und nicht der Schlüssel zu einer vollständigen Genesung.
Viel wichtiger ist es mir, bei mir selbst anzukommen und den inneren Kritiker nicht zu oft übernehmen zu lassen. Das kann kein Diätpulver der Welt für mich erreichen. Keine „richtige“ Konfektionsgröße wird mich glücklich machen. Denn ich kenne mich in den Konfektionsgrößen 46-64. Meine Einstellung, meine inneren Dialoge waren immer die gleichen. Und je schlanker ich wurde, desto kritischer und verbissener wurde ich, was meinen Körper anging.

Meine Wertschätzung für mich selbst ist heute eine andere, und meine inneren Dialoge sind wertvoller und wohlwollender geworden. Ich genese und bin auf einem ganz neuen Weg zu mir.

Wo das hinführt, weiß ich nicht. Wer ich ohne Panzer oder mit weniger Panzer sein werde, auch das kann ich jetzt noch nicht sagen. 

Lieber Poldi, das wird eine spannende Reise für uns zwei.

Alles Liebe,

Fotos Andrea Hufnagel
Location United Studios

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  1. Liebe Tanja!
    Deine Zeilen berühren mich sehr !
    In so vielen Dingen erkannte ich vieles was auch ich fühlte .
    Ich kann dir nur vom ganzen Herzen alles gute für deinen tollen ,leider nicht sehr leichten Weg , wünschen .
    Du bist eine wunderschöne Frau…und du wirst noch schöner werden. Egal wie viele Kilos purzeln oder auch nicht, dieser Weg macht dich zu etwas besonderem und du wirst dafür belohnt. Gedulde dich..
    Liebe Grüße aus Österreich!

    Ingrid ( Ulla Popken)

    Es war toll dich kennen zu lernen !

  2. Liebe Tanja,
    ich bin heute auf Dich „gestoßen“ bei Instagram.
    Und als ich diesen Artikl las, dachte ich…wow…noch jemand mit dem „Kommunionstrauma“ und eine immer schlanken Mama.
    Es ist wie es ist. Abnehmen, der Druck, das Müssen…die Anerkennung und dann wieder Zunahme. Der Weg zu sich selbst ist wichtiger, sich annehmen, sich selbst wertschätzen lernen. Und das ist ein langer, aber wichtiger Weg. Ich mache Pilates nicht um Abzunehmen, sondern für mich selbst!
    Ich werde Dir gerne weiter folgen . Liebe Grüße Kathrin

  3. Liebe Tanja,
    über Happy Sitze hab ich einmal neugierig auf den Button geklickt. Und was soll ich sagen ..WOW, du hast eine irre positive Ausstrahlung und das finde ich Klasse! Davon hätte ich gern ein klein bisserl. Ich lebe auch in Hamburg und empfinde viele Menschen hier als schrecklich hochnäsig. Nun setzt Du einen sehr persönlichen Artikel in das Netz! Noch einmal WOW! Deine Zeilen sind sehr berührend. Meine Ma war und ist schlank und ich war als Kind und Jugendliche einfach nur kräftig, galt aber immer als dick. Ich mache auch keine Diäten mehr und Versuche auch einfach nur gesünder zu essen und Sport zu machen. Ich hab meinen Bauch-, Hüft-, Bein- und Armfleisch nie als Panzer gesehen, aber schon als nervig, besonders meine Arme und Oberschenkel. Aber irgendwie bin das auch ich.
    Ich bin nun echt neugierig auf Deine Artikel geworden!
    Sei herzlich gegrüßt
    Stephanie

    1. Wie sehr mich deine Worte freuen! Vielen Dank!
      Ich freue mich, dich hier willkommen zu heißen auf meinem Blog.

      LG
      Tanja

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